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  • David Crean

Brief an einen Häftling

Kürzlich besuchte ich einen Mann im Gefängnis. Die Länge seines Strafmaßes bedeutet, dass aller Wahrscheinlichkeit nach zum Zeitpunkt seiner Bewährung seine Kinder erwachsen und seine Eltern nicht mehr am Leben sein werden.


Und dies ist nur ein Teil der krassen Realität einer langen Haftstrafe. Das andere Faktum ist, dass die persönliche Freiheit genommen ist. Jeder Aspekt des Lebens ist im Gefängnis kontrolliert. Der Häftling hat nicht die Wahl wann er aufstehen oder zu Bett gehen wird, wann er nach draußen geht, um Sonnenlicht und frische Luft zu tanken. Wo immer der Häftling hingeht, bedeutet dies, durch versperrte Türen zu gehen, vor denen er zu warten hat, bis jemand sie ihm öffnet. Einfache, alltägliche Dinge, die wir alle als selbstverständlich betrachten, sind für einen Inhaftierten nicht verfügbar.


Es kann sein, dass dieser Mann fälschlich verurteilt wurde. Ich bin kein Rechtsexperte und war auch nicht dort, um ihn bezüglich seines weiteren Vorgehens zur Berufung gegen das Urteil zu beraten.


Hier ist der Brief, den ich an ihn schrieb:


Lieber H…


Es war mir eine Freude, dich letzte Woche zu treffen. Ich hoffe, unsere Begegnung war auf irgendeine Weise hilfreich für dich. Diesen Brief schreibe ich dir nun zur Erinnerung an einiges, das wir besprochen haben.


Es ist wichtig zu wiederholen, dass, wie immer die Sachlage in deinem Fall sein mag, Fakt ist, dass du zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden bist. Und was immer bezüglich deiner Berufungen geschehen wird, die Frage bleibt, wie du drinnen lebst. Damit meine ich sowohl im Gefängnis mit all seinen Strukturen und Regeln, als auch in ‚dir’.


Du erzähltest mir, deine Absicht sei, noch immer zu lächeln, wenn du schließlich entlassen wirst. Ich bewundere dies. Zur gleichen Zeit fragtest du mich, wie du es angehen kannst, nicht zunehmend wütender zu werden und Rachegedanken zu entwickeln. Ich vermute, die Antwort liegt darin, wie du in der Gegenwart zu leben wählst;  wie du in jedem Moment *bist*. Meiner Erfahrung nach ist die reine Ausrichtung auf die Zukunft eine unmögliche Aufgabe, die einen hart und oft zunehmend verbittert werden lässt. Die Wahrheit ist, dass wir nur in diesem gegenwärtigen Moment *sein* können. Überhaupt hast du nie irgendetwas in der Zukunft getan! Und die Vergangenheit ist etwas, das in unseren Erinnerungen existiert …. die wir ständig in einem gegenwärtigen Moment adaptieren.


Was ist also zu tun? Ich würde sagen, dass dein Leiden respektiert werden muss. Du kannst den Schmerz nicht ignorieren, da er real ist. Aber statt dass du den Schmerz dich hart werden lässt, lass ihn dich erweichen. Der Schmerz kann dich eher öffnen als dich verschließen. Wie du schon entdecken konntest ist ein Ergebnis deiner Inhaftierung das Gewahrwerden über deine Liebe zu deinen Eltern und das Erkennen, wie sehr sie dich lieben. Lass also den Schmerz damit fortfahren, dich dorthin zu führen, wo du Ausschau hältst nach denen, die dich annehmen.

Kannst du die gleichzeitig existierende Widersprüchlichkeit annehmen, im selben Augenblick damit fortzufahren, deinen Namen reinzuwaschen während du zur gleichen Zeit nach der Akzeptanz der Realität deiner derzeitigen Situation strebst? Es scheint mir als würde hierin deine Freiheit liegen.


Manche Gefühle, wie Ärger und Verbitterung, sind nicht angenehm; aber es sind natürliche Gefühle, die als Antwort auf den Gedanken, ungerecht behandelt und nicht verstanden worden zu sein, auftauchen. Die meisten Menschen tun die meiste Zeit nahezu alles, solche Gefühle zu vermeiden, indem sie ihren Weg aus diesen Gefühlen zu ‚denken’ versuchen; eine Lösung suchen oder manipulieren, was üblicherweise bedeutet zu behaupten, ‚recht’ zu haben und jemandem die Schuld zuzuweisen. Die Wahrheit bleibt jedoch, dass ‚recht haben’ nichts dazu beiträgt, den Schmerz zu lindern.


Wenn wir diesen Gefühlen hingegen Raum geben, einfach indem wir sie ‘haben’, ohne sie zu unterdrücken oder sie auszuagieren, ohne ihnen irgendeine Energie zu geben, werden sie säuberlichst verbrennen. Die Emotion richtet sich nach dem Körper; sie tut was immer da ist zu tun und, wenn du ihr keine Energie gibst, wird sie allmählich durchwandern ähnlich einer Wolke, die über den Himmel zieht. Was in uns bleibt ist Raum, ein Gefühl von Weite. Dies ist ein profunder Weg um Akzeptanz zu finden und loszulassen.


Viktor Frankl, ein Überlebender der Konzentrationslager, schrieb:


“Alles kann einem Menschen genommen werden, außer einem; die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen, seinen eigenen Weg zu wählen. <…..> Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ (von, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn)


Ich wünsche dir Frieden.


Und, wie ich schon sagte als wir auseinander gingen: wenn du ein weiteres Treffen möchtest, bin ich sicher wir können es einrichten, wenn ich nächstes Jahr wieder in der Gegend bin.


Die besten Wünsche,


David






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